Wulf Herzogenrath
Video-Skulptur: Rückblick und Ausblick
Wulf Herzogenrath, der gemeinsam mit Edith Decker die Ausstellung “Video-Skulptur. Retrospektiv und aktuell. 1963–1989” veranstaltet hat, die 1989 in Köln, Berlin und Zürich zu sehen war, wurde befragt, was “Video-Skulptur” für ihn rückblickend bedeutet, und welche Auswirkungen seiner Ausstellung er beobachten konnte:
Es gab in den vergangenen Jahren eine Reihe von Spezialausstellungen im weiten Feld der Skulptur: Boden-Skulptur, zum Thema “Schwebend” oder “Stahl¬skulptur”. Hier wurden also Bereiche zusammengefaßt, die sich vom Material, von der Behandlung des Themas sowie einer bestimmten Dimension innerhalb des Dreidimensionalen bestimmen lassen. Teilaspekte wurden analysiert, aufgearbeitet und ihre Spezifika gegenüber anderen Bereichen abgegrenzt.
Wie steht es denn nun mit Video-Skulptur? Taugt dieser so griffig scheinende Terminus denn für ein bestimmtes, eingrenzendes Feld innerhalb der modernen Skulptur? Stahlbildhauerei – ist ein Wort, das in sich unsinnig ist, denn nichts kann in Stahl wirklich “Gehauen” werden, ein Steinbildhauer hat andere ma-terielle Voraussetzungen als derjenige Künstler, der den Stahl als Mittel seiner Ausdrucksgestaltung wählt. Manches läßt sich in Stein hauen, anderes in Stahl for-men, jedes Material hat seine spezifische Besonderheit.
Es ist also sicher richtig, das zu bearbeitende Material schon in der beschreibenden Definition als grundlegend zu erwähnen: Metall- Skulptur und Stein-Bildhauerei. Aber was beschreibt Video-Skulptur: den Einsatz der elektronischen Möglichkeiten z.B. des Fernsehgerätes mit laufenden, manipulierten Programmen oder mit eigens hergestellten Videobändern, die Multiplizierung von Monitoren und Bändern bis hin zum Einsatz von Kamera, Synthesizer, Computer und Projektor. Doch, wo ist die Grenze zum normalen TV-Set? Wir sollten also unseren Fernseher im häuslichen Environment schon als eine potentielle Video-Skulptur sehen und gleichzeitig die Werke ebenso akzeptieren, die mit dem TV-Bild “in absentia” spielen, wie Candle TV von Nam June Paik, der in ein leeres TV-Gehäuse anstelle der Elektronik “nur” eine flackernde, real leuchtende Kerze stellt. Video-Skulptur grenzt sich also ab gegenüber dem Abspielen eines Videobandes auf einem Monitor, zum Bühnenbild mit Video, einer Performance mit Video.
Hier sind die Eckdaten des breiten Feldes Video-Skulptur angedeutet, die von der Verwendung der Videotechnik ausgehen. Und dies ist – realistisch gesehen – auch die einzig klare Definition, denn mit allen anderen Begrenzungen und Definitionen müssen inhaltliche und formale Gesichtspunkte eingeführt werden, die eine bestimmte Video-Skulptur zur Minimal Art, zur “individuellen Mythologie”, zur postmodernen Design-Skulptur rechnen lassen – also Merkmale, die über die Verwendung bestimmter Materialien hinausgehend eine künstlerisch bedeutendere Charakteristik – inhaltliche und formgestaltete – ergeben.
Letztlich kann man innerhalb der Video-Skulptur der letzten ca. drei Jahrzehnte alle wesentlichen Stil-Entwicklungen ebenso ablesen wie im weiten Skulptur-Bereich, wenn auch sicherlich diejenigen Kunstformen, die sich mit Zitaten aus der Realität, mit Wahrnehmungsfragen oder mit Illusionen auseinandersetzen, mehr Video einsetzen als die Minimal Art.
Auch wenn der Mono-Video-Bereich, das einfache Videoband – vom dokumentarischen bis zum Video-Clip – nicht zur Video-Skulptur gehören – so gibt es hier doch andere wichtige, insbesondere frühe Beispiele: Paiks Zen for TV (heute als Teil der Sammlung Hahn im Museum moderner Kunst in Wien) und seine verschiedenen Varianten der Manipulation der Bildröhre gehören dazu, wie natürlich der “Beton-Fernseher” von Wolf Vostell (eine der ersten Erwerbungen des Museums elektronischer Künste von Prof. Klotz in Karlsruhe), oder jüngere Arbeiten, wie das Pffft von Servaas, der die Illusion des Pustens aus dem TV-Gerät, das eine Feder bewegt, thematisiert. Gerade der Einbau von einem TV-Gerät in eine Skulptur, oftmals nur einer Bildröhre in eine Seite eines dreidimensionalen Objektes, d.h. der Kontrast des bewegten, in der Zeit ablaufenden Bildes auf dem TV-Schirm und die statische, im realen Raum sich ausdehnende, dreidimensionale Skulptur bietet noch viele Möglichkeiten für Künstler. Die beiden Österreicher GRAF+ZYX haben da schon vielfältige Beispiele geliefert, wie auch Helmut Mark mit seiner Video-Skulptur sogar das Leitmotiv für Plakat und Einladung der Kölner Ausstellung Video-Skulptur 1989 bildete.
Selbstverständlich sind die Multi-Video-Möglichkeiten typischer und gebräuchlicher, sie grenzen sich auch vom Film ab und beginnen mit der Multiplizierung des Gleichen – wie bei Shigeko Kubotas Akt, eine Treppe herabsteigend. Dort schafft die Wiederholung des gleichen Bildes auf den vier Stufen nur eine scheinbare Bewegung des bewegten Mediums, das sich als Paraphrase auf die Unmöglichkeit der Darstellung von Bewegung im statischen Bild nun gerade gut eignet. Der Schwimmer, der sich durch zwölf Monitore hindurch schwimmt (Studio Azzurro, Mailand) spielt geradezu mit der Illusion des Dreidimensionalen, gerade auch wenn er an den Außenwänden der Monitor-Reihe herauszuschwimmen scheint; hier stellt die Fernsehkiste eine 1 : 1 Realität dar, die immer wieder verblüffende Möglichkeiten eröffnet.
Man könnte schon heute eine kunstgeschichtliche Dissertation allein mit dem Thema “TV als Wasser/Fischbassin” füllen, so zahlreich sind die Varianten und Wiederholungen. Selbst Paik hat in seinen Beispielen Sonatine für Goldfisch (Fernsehgehäuse mit einem Aquarium statt Technologie, von 1975, Sammlung Hahn im Museum moderner Kunst in Wien) bis zu den Reihen von Aquarien vor Reihen von TV-Geräten, die eben nur durch die von Fischen belebten Wasser-Kuben zu betrachten sind (“Video-Fish” in verschiedenen Varianten, eines im Centre Pompidou, Paris), dafür genügend Stoff gegeben. Mag man hier oftmals noch die Zweidimensionalität der “Bildfläche” aus den nebeneinender, übereinander oder sonstwie gestellten Bildschirmen als eher bildmäßig und nicht skulptural dreidimensional ansehen, so ist sicher schon bei den mit Zeitverzögerung operierenden Werken wie denen von Marie-Jo Lafontaine der optisch räumliche Aspekt von besonderer Bedeutung. Vielleicht könnte man hier sogar auch von einer “virtuellen” Räumlichkeit sprechen, die nur in der Vorstellung des Betrachters da ist, denn die nur um – im wahrsten Sinne – Augenblicke versetzten Bildfolgen ergeben einen scheinbaren Raum, Bewegungsfolgen mit Assoziationen einer räumlichen Erweiterung.
Gerade die räumliche Ausdehnung zwischen den Monitoren ermöglichen plastische Spannungen, die thematisiert werden können: Gary Hill läßt seine eigene Raumerfahrung mit fünf Kameras an Kopf, Händen und Füßen so wiedergeben, daß eine Kreuzform ensteht Crux (1983–87), Marcel Odenbach baut eine thematisch unterschiedliche Kontrastsituation zwischen den auf Sockeln stehenden Monitoren und den in der entfernten Ecke umgestürzten Geräten auf. Der Elefant im Porzellanladen (1987) läßt auch den Ton als ein räumliches Moment erleben, das in bestimmten Situationen die Schwerpunkte im Raum anders akzentuiert. Klaus vom Bruch benutzt geradezu die Spannung im Raum vom Sender zum Empfänger als ein vom Besucher fast physisch wahrzunehmendes Element der Skulptur: Alle seine Arbeiten der zweiten Hälfte der achtziger Jahre leben von der zweifachen Spannung der plastischen Elemente zu den Video- bzw. Radarbildern wie auch der Tatsache, daß die Bilder durch den Raum real gesendet und nicht mehr per Kabel transportiert wurden. Von hier ist es nur noch ein kleiner Schritt zum großen Environment, in dem Video mal ein konstituierendes, aber manchmal auch nur ergänzendes Element bildet. Werke von Dara Birnbaum in der Fläche in Verbindung mit “malerischen” Foto-Elementen bis zur “Höhle” von Tony Oursler, von Bruce Naumans “Clown”-Projektionen, die keine anderen Elemente als Videobilder zulassen, bis zu Ingo Günthers zuerst auf der “documenta” 8 in Kassel 1987 gezeigten Kommando-Zentrale, die mit kaltem Marmor verkleidet das Videobild von oben auf den Meßtisch projiziert erleben läßt (heute im Skulpturenmuseum Marl installiert).
Vom Environment ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zu den Bühnenbildern mit Video-Einsatz, die seit dem spektakulären Hamlet von Heyme und Wolf Vostell im Kölner Schauspielhaus 1979, immer populärer werden.
Ein spezieller Bereich – aber für mich ein besonders attraktiver – ist die Closed-Circuit-Installation, das heißt der Einsatz von Kamera und zeitgleicher Projektion des aufgenommenen Bildes. Nicht nur, daß hier die besondere, einmalige Video-Möglichkeit zum Einsatz kommt, sondern auch, weil hier der Betrachter in sonst nur intellektuell nachvollziehbarer Weise in den Mittelpunkt des Kunstwerkes gerückt wird. Der Betrachter ist hier nicht nur wie bei den holländischen Gruppenporträts des 17. Jahrhunderts einer der Zeugen des gemalten Geschehens oder wie bei Duchamp durch ein Guckloch blickender Einzel-Besucher (Étant donnés, Philadelphia Museum of Art), sondern er ist der Realisator und Vollender des Werkes, das der Künstler “nur” in seiner Struktur vorgegeben hat. Peter Campus, Dan Graham oder Bill Viola haben hier Eindruckvolles geschaffen, das zu dem Wichtigsten der Kunst der letzten dreißig Jahre gehört.
Dieser wirklich sehr summarische Kurz-Überblick über einige Formen der Video-Skulptur soll enden mit einigen Erfahrungen und Hinweisen: Die wichtigste Folge dieser Ausstellung war zweifellos, daß eine allseits wohlwollende Kunstkritik, insbesondere außerhalb der Video-Szene, die künstlerischen Potenzen und auch die Publikumswirksamkeit einiger der Werke anerkannte – eben auch als Teil der Kunstszene. So wurden aus der Ausstellung Werke verkauft (Campus Interface an das Centre Pompidou, Paris), Werke in angemessener Form als Multiple umgesetzt und mehrfach verkauft von einer kommerziellen Galerie (Marie-Jo Lafontaine Victoria durch die Galerie Walter Storms, München). Jüngere Künstler erhielten wichtige, angesehene Preise und Stipendien (Dieter Kiessling BDI-Kulturkreis-Stipendium und das Grohmann-Stipendium des Landes Baden-Württemberg), Fernsehsender wurden ermutigt, sich mehr um das Medium zu kümmern (NDR, Viktoria von Flemming produziert eine einstündige Recherche über die Videokunst, gesendet am 17.12.1990). Vielleicht ermutigte diese positive Resonanz die Videofestivals in Berlin und Salzgitter, auch Video-Skulpturen aufzunehmen – und Edith Decker, die Mitorganisatorin, wurde Mitarbeiterin von Peter Weibel bei der Eröffnungsausstellung des Deutschen Postmuseums Vom Verschwinden der Ferne in Frankfurt im Herbst 1990.
Natürlich nicht Folge der Ausstellung, aber doch in das Klima passend: die wohl wichtigste Avantgarde-Ausstellung des Jahres 1990 Energien im Stedelijk Museum Amsterdam, von dessen Direktor Wim Beeren organisiert, schloß zwei bedeutende Video-Installationen ein: unter sechzehn Künstlern war neben der großen Video-Installation von Bruce Nauman auch der Video-Künstler Gary Hill mit einer neuen eindrucksvollen Arbeit zu sehen. Seit Jahren geplant, eröffnet im Centre Pompidou die mit fünfzehn Installationen bzw. Werkgruppen groß angelegte Ausstellung Passages de l’images mit einem riesigen Film- und Videokunst-Programm im Herbst 1990 (Organisation Raymond Bellour, Catherine David, Christine van Assche), die weiter nach Barcelona und durch die USA wandert: Hier sind Foto, Film, Dia-Installationen und Video mit neuen Arbeiten vereint – wenn auch wieder eher im “Ghetto” der neuen Medien, aber im Centre Pompidou im Erdgeschoß bestens plaziert und hervorragend besucht.
Folgen auf dem Kunstmarkt sind sicher bei den Stars wie Paik (kommerzielle Ausstellung in der bisher nicht als Förderer der elektronischen Künste hervorgetretenen Galerie Hans Mayer Düsseldorf, wie auch ab Herbst 91 eine Retrospektive in Basel/Zürich, Düsseldorf etc.) oder der mittleren Generation wie Klaus vom Bruch und Marcel Odenbach, aber auch schon Ingo Günther, die alle mit Gast- bzw. Fest-Professuren an deutsche Hochschulen berufen wurden – sichtbar, ganz abgesehen von Einzelausstellungen in Museen, Kunstvereinen und Galerien.
Was leider heute – insbesondere im deutschsprachigen Raum, im Gegensatz zum angelsächsischen und französischen Raum – völlig fehlt ist die breite Förderung der Künstler durch private oder staatliche Institutionen, die weder Stipendien vergeben noch Anregungen für die Förderung von neuen Vertriebswegen innerhalb des Buchhandels oder der Videotheken aufgreifen. Hier könnten Projekte vielleicht sogar Wunder bewirken.